Die erste Ruhestätte
der Vielfalt
in der Schweiz.
Eingeweiht am
7. September 2023
Einweihungsrede von Nicole Müller
New Text
Liebe Community, liebe Gäste, liebe Freundinnen und Freunde
Als Kind bin ich über die Gräber gewandert, wenn die Erwachsenen nach dem Gebet Erwachsenengespräche führten. Ich bin in einem Dorf aufgewachsen, die Toten waren ganz nah und immer ein wenig da. An Allerseelen fegten wir, wenn schönes Wetter war, die Grabsteine sauber. Die Namen und die alten, verschnörkelten Schriften gaben mir Fragen auf. So früh schon verunglückt oder nur krank gewesen? Woher kommt dieser seltsame Name, aus Polen oder vielleicht Russland? Wie kamen er und die Person, die den Namen getragen hat, hierher? Diese ledige Frau im Grab ihrer Eltern? Durfte sie nicht heiraten, hat sie keinen Mann gefunden oder war sie am Ende vielleicht wie ich selbst an Frauen interessiert?
Nie hätte ich gedacht, dass ich eines Tages Teil einer Arbeitsgruppe namens «regenbogen-ruhe» sein würde. Und noch viel weniger hätte ich gedacht, dass es einmal möglich sein würde, unser schönes, wildes und vielfältiges Leben über den Tod hinaus im öffentlichen Raum zu dokumentieren und sichtbar zu machen. Mit der Einweihung des ersten queeren Grabfeldes in der Schweiz erleben wir heute einen historisch bedeutsamen Moment.
Man mag einwenden, dass vor dem Tod alle gleich sind. Vor dem Tod, ja vielleicht. Aber nicht vor dem Akt des Trauerns und des Gedenkens. Die Menschen suchen nicht nur im Leben die Nähe derjenigen, von denen sie sich verstanden fühlen und die sie selbst verstehen. Friedhöfe sind schon immer Gärten der Zugehörigkeit gewesen. Es gibt die Kindergräber und die Soldatengräber. Auf dem Père Lachaise in Paris ruhen in einer Ecke die Asiaten und in einer anderen Ecke die jüdischen Toten. Und selbstverständlich haben Familiengräber eine lange Tradition. Mit dem heutigen Tag hat das Genre der Familiengräber in der Schweiz nun Zuwachs bekommen. Hier auf dem Sihlfeld, unter schönen alten ehrwürdigen Bäumen, kann man sich, wenn man stirbt wünscht, im Zeichen des Regenbogens bestatten lassen. Das hilft den Lebenden beim Trauern und den Toten dabei, sich vor dem unerwünschten Zugriff umgeschriebener Biographien zu schützen. Es ist immer noch gar nicht so selten, dass Familien einen unerwünschten Lebensentwurf posthum begradigen wollen.
Wir sind glücklich und stolz darauf, dass es uns in so kurzer Zeit gelungen ist, das Projekt eines vielfältigen Grabfeldes zu verwirklichen. Und wir danken Bruno Bekowies und der inzwischen verstorbenen Sarah Keller ganz herzlich dafür, dass sie uns von Anfang an engagiert unterstützt haben. In Friedhöfen bildet sich Geschichte ab. Kriege, Epidemien, gesellschaftliche Veränderungen: Sie alle hinterlassen Spuren in den Totengärten. Umso erfreulicher ist es, dass nun die Community auch in diesem Bereich der Gesellschaft sichtbar wird. Es ist schließlich nicht nur wichtig, dass wir sind, sondern auch, dass wir gewesen sind und dass wir einen Platz haben, um an unsere Toten zu denken. Wenn man an die AIDS-Toten denkt oder an alle jene, die Opfer von Gewaltverbrechen wurden oder sich das Leben genommen haben, weil sie sich nicht selbst sein durften,
Das Grabfeld, das wir heute einweihen, steht übrigens allen offen. Es ist ja auch nur eine Akzentverschiebung: Mit unserem queeren Leben, das nach wie vor seine Besonderheiten hat, sind wir in der Gesellschaft meist nur mitgemeint. Hier, auf dem Grabfeld des Regenbogens, ist es für einmal umgekehrt: Es sind die anderen mitgemeint und willkommen, auch zu partizipieren. Ich danke allen, die uns geholfen haben und wünsche Ihnen eine schöne Feier.
Alle Fotos (c) Sandra Meier/gestaltungskiosk.ch